Amelie & Robert

Amelie & Robert

Karl-Dieter Elshorst

Karl-Dieter Elshorst

23. September 2025
Artikel

Amelie & Robert - Eine Beziehung zur Liebe

1 - gewohnte Welt

Robert

Robert saß im Café, schrieb – wie fast immer – sein Tagebuch. Er fühlte sich oft so resigniert, leer, fast depressiv, – er war unsicher, schämte sich seiner selbst.

Gelegentlich blickte er hoch. Und dann fragte er sich erneut, was oder wie etwa Amelie, ein Stammgast, meist vis-a-vis in der Nähe der Theke sitzend, wie Amelie ihn eigentlich sehen und beurteilen würde, – also, was eigentlich ein anderer, wie sie, von ihm wahrnehmen könnte?

Könnte sie ihn überhaupt wahrnehmen? – Er spürte, wie er für sie im Grunde Luft war, – sie über ihn, durch ihn hinweg schaute, wenn zufällig mal ihr Blick in seine Richtung wanderte - - er war so unsichtbar, wie er es schon länger kannte. Er spürte, für sie im Grunde gar nicht da zu sein, nicht zu existieren.

Allmählich merkte Robert, dass sie damit zu den wenigen gehören mochte, die vielleicht die Wahrheit erkennen können: seine tatsächliche Nicht-Existenz, - wer ist Robert? Ihn selber, spürte er, gab es eigentlich nicht.
Er hatte keine Kinder, – nur einen unbedeutenden Job in einem nostalgischen Bücherladen, – kaum Freunde. Würde er fehlen, so würde es kaum jemand auffallen. Nur seine Mutter, die würde wohl rumjammern.
Amelie, so dachte er, hat wohl erkannt, womit er noch haderte, was er sich kaum eingestehen mochte: er ist im Grunde ein wandelndes Nichts, - eine Illusion.

Er schien eine reale Person zu sein, nahm am Tisch seinen Platz ein, - war aber, er spürte es, nur eine leere Hülle, – sinnlos vegetierend.
Wieso ließ Amelie sich nicht täuschen, wie andere, von seiner körperlichen Existenz? Innerlich fühlte er im Grunde sich lange schon tot – wie gelähmt, unfähig zu leben, zu lieben, ohne zu wissen, woher und wohin. Die wandelnde Hülle für einen sinnlosen Blutkreislauf.
Sein Lieblingsmärchen war des Kaisers neue Kleider. Das Märchen vom im Grunde nackten Kaiser, bekleidet nur von seiner Eitelkeit. Er selber aber, Robert, war das genaue Gegenteil hiervon: ein wandelnder Kleiderständer ohne Inhalt.
Er lebte nicht, um zu leben, – sondern nur, um allmählich Tod und Verwesung näher zu kommen.

Welche geheime Kraft, welches Wissen mochte sie in sich bergen, um Unsichtbares erkennen zu können?
Wieso, woher weiß sie, dass ihr Blick über ihn hinweg gleiten konnte? Ohne stoppen zu müssen und dabei Zeit zu verlieren?

Er spürt, wie allmählich sein Interesse, seine Neugierde an Amelie erwachte.
Eine endlose Wiederholung stets der gleichen Fragen:
Wie kann sie wahrnehmen, was nicht wahrnehmbar, unsichtbar ist, - wieso? Warum lässt gerade sie sich nicht durch seine leere Fassade täuschen?

Plötzlich kam ihm die Idee: vielleicht sieht sie ja sogar einen Weg aus der Sackgasse, in die er geraten war!
Mit ihr, meinte er plötzlich, mit ihr könne er vielleicht herausfinden aus dem Abgrund!

Amelie

Amelie saß im Café, las und schrieb, wie so oft, in ihrem Tagebuch, – leicht tagträumend, anwesend – abwesend, – schwankend zwischen hier und irgendwo.
Sie sinnierte, wie oft, zu oft, über ihre Familie, sich selbst, ihren Vater, ihre Mutter, – über die Frage, was denn für sie selbst Familie bedeutet und bedeuten könnte.
Ihre Mutter hatte von ihrem Vater sich getrennt, – sie selbst hatte ihn nie richtig kennen gelernt, – nur verschwommene Erinnerungen und Erzählungen.

Und wie öfters ließ sie ihren Blick schweifen durch ihr Stammcafé, in dem sie sich seit Jahren geborgen fühlt, – geborgen wie, – man sagt es so, – im Mutterschoß.
Erneut glitt ihr Blick über den Stammgast vis-a-vis, Robert, der aus ihr unerklärlichen Gründen sie immer wieder an ihren Vater erinnerte. Vielleicht war es damals ähnlich, als ihre Mutter den Vater kennenlernte? Bei einem Kaffee kennen lernte. War er vielleicht so wie damals ihr Vater?
Aber was ging denn schief?

Seit Jahren schon lebt ihre Mutter, neu verheiratet, mit einem Mann zusammen mit dessen zwei früheren Töchtern, die alle sie, Amelie, ablehnten als einen Fremdkörper. Längst schon war sie ausgezogen aus diesem feindseligen Umfeld – in dem ihre Mutter sich an diesen fremden Mann klammerte – und wo war ihr eigener Vater? – hinweg –
Es waren diese Minuten, in denen Amelie mit aufsteigenden Tränen kämpfen musste, und der dicke Stein in der Brust ihr die Luft zum Atmen nahm.

Was ihr nur messerscharf klar war: sie wollte, musste es besser machen als ihre Mutter! – Nur, – wie?
Sie schlüpfte unvermittelt in die Haut ihrer Mutter. Das Gefühl überkam sie wieder: die Zeit zurückdrehen, und die Vergangenheit anders anpacken. Um die Gegenwart heilen zu können. –
Welcher Partner ist überhaupt der richtige? Für Bruchteile der Zeit, wie ein Blitzlicht, nahm sie das Gesicht von Robert klar wahr – nur, um sofort wieder im Strudel ihrer Gedanken zu versinken: und wenn er es wäre, wie könnte, wie müsste sie es anpacken, ihn kennen zu lernen – und dann zu vermeiden, was zum Elend ihrer Mutter geführt hatte?
Manchmal wusste sie nicht, ob sie nun mehr ihr eigenes Schicksal betrauerte - oder das Leid nachempfand, das ihrer Mutter damals widerfahren war.

Und während sie dies und manches andere ihrem Tagebuch anvertraute, fühlte sie, wie ihr Interesse an diesem Robert wuchs.
Es hätte sicher auch ein anderer sein können – aber diesen Stammgast kannte vom Sehen und kurzen Grüßen sie schon lange, - und sah er nicht sogar Jugendbildern ihres Vaters ähnlich?
War dies nicht eine Fügung, die nun ergriffen und gestaltet werden müsste?
Sein abweisendes Verhalten, seinen Rückzug in irgendwelche Aufzeichnungen – sie schwankte zwischen Mutlosigkeit und der Bereitschaft, irgendetwas zu versuchen… Was mochte sich denn verbergen hinter dieser Hülle des Literaten?
Wenn er nur wollte – sie war plötzlich bereit, ihn zu erwecken, zu retten – und damit zugleich sich selbst!
Welche Seite seiner Persönlichkeit mochte es sein, die sich für sie öffnen könnte – und mit der sie einen Weg finden würde, in eine bessere Zukunft – -

Oh, schon 16:32 Uhr – ihr Yoga-Kurs! Amelie sprang hastig auf und eilte zum Bus. Alles andere mußte nun warten.

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2 - Probleme

Robert

Wie es sein Schicksal so will – just in dem Moment, in dem er bereit und willens war, irgendwie mit ihr in Kontakt zu treten, – vielleicht sie anzulächeln bei einem Blickwechsel – – da erhob sie sich abrupt, packte ihre Sachen und eilte hinfort.
Er war wie versteinert – wenn das kein Zeichen war!
Das hatte er gelernt von seinen pedantischen Eltern: so fein wie möglich auf die kleinsten Zusammenhänge zu achten, um das große Räderwerk der Wirklichkeit allmählich verstehen und hinterfragen zu lernen.
Seine Mutter hatte stets Großes mit ihm vor! - Zumal nach dem frühen Tod des Vaters.
Und selbst heute noch, nachdem all die großen Pläne längst schon ein verlorener Teil seiner Geschichte waren, bemühte er sich redlich, wenigstens die kleinen Anzeichen verborgener Kräfte wahrzunehmen und entsprechend zu reagieren.

Gut, mit Amelie war wohl die Idee, gemeinsam einen Ausweg zu suchen, offensichtlich gescheitert – – sicher wäre sie auch für ihn viel zu selbstbewusst, zu stark, zu groß gewesen!?

– Er musste noch in die Apotheke, für die Mutter Medikamente holen. Nach Vaters Tod war er wieder zu Hause eingezogen, – nicht zuletzt in der Hoffnung, seine Probleme an der Wurzel greifen und lösen zu können.
Probleme müssen von Anfang, von der Geburt an, analysiert und entsprechend behoben werden, davon war er überzeugt.
Aber wie könnte er nachträglich seine Geburt korrigieren, und die schon damals angelegten Fehler nun im Nachhinein ausmerzen?
So elend er seine Existenz auch sah, seine derzeitige Lebenssituation gab ihm einen Rest von Sicherheit. Besser ein ungemütliches Heim, als gar keines.

Nachdenklich, fast unbewusst spielte er mit den Siegelring seines Großvaters.
Hätte der sich dem Leben so verweigert, wie er selber – weder der Ring noch er wären Teil dieser Welt. Vielleicht gab es ja doch einen Ausweg?

Amelie

Ihr Yoga-Kurs! Für nichts auf der Welt wäre sie bereit, hiervon eine Stunde zu versäumen!
– Insgeheim war sie stolz auf ihren jungen, starken Körper, – pflegte ihn, ihre Haut und darunter gespannte Muskulatur, – und sie genoss die Anerkennung der anderen Gruppenmitglieder. Hier war sie zu Hause!
Und hier spürte sie die Überlegenheit zu ihrer schwachen Mutter.

In der Konzentration auf den Bewegungsablauf erlebte sie das reibungslose Zusammenspiel ihrer verschiedenen Glieder, eine Harmonie, die sie ihr ständiges Hadern mit ihrer traurigen Familie vergessen ließ. Ein Zusammenspiel, das ihrer Familie fehlte.
Wenn sie sich beugte und streckte, rann ihre eigene Kraft durch ihren Körper, ihren Körper – Stolz und Stärke erfüllte sie.
Dafür brauchte sie auch keinen Partner – könnte nicht das ganze Leben eine einzige Yoga-Übung sein?!

Mit Erschrecken registrierte Amelie, dass sie an dem Gebäude ihrer Yoga-Schule vorbeigelaufen war.
So etwas war ihr noch nie passiert!

- Aber dann ging sie einfach weiter. Nein, sie drehte sich nicht um, sie lief nicht zurück – sie ging einfach weiter. Sie fühlte sich plötzlich so willenlos, ferngesteuert, und merkte: irgendetwas lief in ihr, mit ihr. Sie setzte Fuß vor Fuß, hin zu einem nahen Park, – hin zu einer hölzernen Bank, geschützt von einer alten großen Buche. Dort nahm sie Platz, - als sei es nicht sie selber, die sich da setzte. Es setzte sich in ihr, mit ihr, - - aber sie verstand nicht, was da plötzlich im Gange war, was Es war, was Es mit ihr machte.
Nun, Yoga würde sie dann morgen machen. Heute aber - die Situation im Café ließ sie nicht los.
Natürlich war ihr Yoga wichtiger als alles andere – aber war sie da nicht vor etwas davongelaufen?
War es nicht das, wofür sie bisweilen ihre Mutter so verachtete, davonzulaufen vor wichtigen Entscheidungen?

Plötzlich fühlte Amelie sich zweigeteilt: einerseits, ganz kribbelig, am liebsten, ganz schnell zurücklaufen zu ihrem Yoga, um dort ihre Stärke zu spüren, – die bewundernde Blicke der anderen, – –
– und andererseits fühlte sie sich ganz ruhig, die Vögel hatten aufgehört zu zwitschern, der Wind war erstarrt, - kaum dass sie Atem fand, – einen Herzschlag lang schien die Zeit stille zu stehen: musste sie nicht irgendwann sich einer Entscheidung stellen?
Sie spürte, an einer Schwelle zu stehen.
Und sie blieb noch eine ganze Weile sitzen, bevor sie in ihre leere Wohnung ging.

Sie war sich nun sicher, dass neben und außer Yoga auch andere Wege ins Leben führen. Sie musste sie nur finden und gehen.
Und die Situation im Café war hierfür vielleicht eine Pforte gewesen.
Zu Hause legte sie sich flach auf den Teppich, hörte Musik, verfolgte die bunten Flecken ihrer Laserlampe an der Decke.
Ihr Wellness- Diffuser füllte das Zimmer mit einem leicht zimtigen Duft, der ihre Träume in heimelige Vertrautheit wiegte. Sie kannte den Geruch von einst, aus glücklichen Tagen.
Die Trance half auch diesmal. Das Schicksal, merkte sie, hat ihr erneut gezeigt: es gibt verschiedene Wege, mehrere Plätze, an denen sie sich beschützt fühlen und die innere Weite erleben konnte.

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3 - Die Entscheidung

Robert

Er hatte an diesem Abend noch im Tagebuch Vor- und Nachteile durchgespielt, mit irgendeiner Person gemeinsam einen Ausweg aus seinem Nichts zu finden.
Und obwohl da ja ein deutlich negatives Zeichen von Amelie gesetzt worden war, kehrte sein Gefühl, wie magnetisch angezogen, immer wieder zu ihr zurück.
Vielleicht musste er nun sogar das profunde Wissen seiner Mutter missachten, – gab es hier vielleicht einen ganz anderen Kontext, mit anderen Gesetzmäßigkeiten? Hätte er vielleicht vorhin ihr folgen müssen, damit ihr und seinen Weg sich kreuzen konnten?
Wollte sie vielleicht mit ihrem Gehen ihn auf einen Weg bringen?
Eine ungesprochene Aufforderung: Folge mir!
Hätte er einfach folgen müssen?
Hatte er etwa einen unnötig abweisenden Eindruck gemacht? War er selbst schuld gewesen, dass sie so abrupt ging?

Muss nicht der wahren Wissenschaftler hunderte Male den Versuch machen, bis irgendwann der Stein der Weisen sich ihm zeigt – bis im Glaskolben die Asche sich in Gold verwandelt?
Plötzlich sah er sich in der aufregenden Rolle der alten Alchimisten: vielleicht war er auserwählt, das Elixier der Unsterblichkeit zu entdecken!

So gewann er eine Rolle für sich in der Welt – gemeinsam mit Amelie, deren Hilfestellung es nun zu gewinnen galt.
Alea jacta est, mit Caesar am Rubikon: die Entscheidung war gefallen; nun war es Zeit zum Aufbruch in die Welt.
Nicht gerade voreilig mit seinen 31 Jahren.

Amelie.

Sie tat sich schwer in ihrem Grübeln. Der frühzeitige Verlust des Vaters lastet auf ihr wie ein Felsbrock, – schwerer noch als die Abweisung durch ihre Stieffamilie, durch die schwache Mutter, die sich hilflos an diesen neuen Mann klammerte.

Welcher Teufel ritt sie, nach schon mehreren gescheiterten Beziehung erneut Ausschau zu halten nach – wonach denn?
Diesmal sollte es anders werden; diesmal, sie war entschlossen, wollte SIE die Fäden in der Hand behalten.


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4 - der Weg

Robert

Das erste Treffen erwies sich als ganz unproblematisch – und für ihn sehr intensiv, mehr noch als erwartet.
In seine Hoffnung, mit ihr gemeinsam einen neuen tragfähigen Sinn finden zu können, mischte sich ein Gefühl von Verliebtheit, erotischer Anziehung. Ihre unterkühlte Attraktivität erregte bei ihm mehr als nur feuchte Hände. Nun galt es, keine groben Fehler zu machen – einerseits wollte er natürlich seine aktuelle Attraktivität für sie steigern – wie?
Und andererseits musste er sich darüber klar werden, welche Änderungen in seinem Weltsystem nun wichtig waren.
Welche Schritte waren zuerst erforderlich?

Amelie

Das erste Treffen erwies sich ganz unproblematisch – aber für sie weit ernüchternder als erhofft.
Er war ein sympathisches Irrlicht, – ein Wirrkopf, Looser, Schwächling, ein Mama-Söhnchen.

Irgendwie war sie auf sich selbst zornig, – es gab zweifellos attraktivere Partner. Wozu sich mit ihm zurechtgeben?
Okay, – er stammte aus einer angesehenen Familie, die sicher auch Geld hatte.
Und er konnte recht witzig sein – – sollte das schon reichen, ihren göttlichen Körper hinzugeben, dabei vielleicht sogar dick und schwanger zu werden, – er dann, als Vater ihrer Kinder? Ihr gruselte.
Dann aber dachte sie an ihre Überlegungen, ihre Entscheidung.
Er, spürte sie, würde ihr nicht laufen gehen wie der eigene Vater ihrer Mutter. Ihn konnte sie in der Hand halten und führen, – vielleicht gar zu einer interessanteren Existenz?!
Er, sie spürte es, war für sie formbar.
Vielleicht konnte gerade mit ihm sie erreichen, was sie ja wollte!
Was also war zu tun – was die ersten Schritte hierbei?
Sie wusste es spontan: erst einmal, mit anderem Outfit, anderen Denken, ihn seiner Mutter entfremden, – ihn nach ihrem Geschmack umzuformen.
Um sich selbst machte sie sich keine Sorgen: sie spürte die Fäden in ihrer Hand. Nun musste sie nur noch hartnäckig genug sein…

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5 – ab zur Hölle (Höhle)

Robert

Die Beziehung entwickelte sich zäh.
Auf erotische Höhepunkte folgten immer wieder Phasen des Zweifels, – zeitweilig die Frage, ob ein Abbruch nicht besser sei.

Interessanterweise hatte dabei die Stimme seiner Mutter sehr an Kraft verloren. Er war nun in der Lage, bei ihr den Ton innerlich auf „ganz leise“ zu drehen; sie brabbelte zwar noch im Hintergrund, unterschied sich aber kaum noch vom normalen Rauschen, Hupen und Tröten der Welt.
Seine neue Frisur kam nicht nur bei Amelie gut an. Er hatte auch wieder begonnen, Tennis zu spielen, lieferte sich so manches Match mit Amelie. Zeitweilig waren sie im gemischten Doppel ein gefährliches Team. Dafür lohnten sich auch die zusätzlichen Trainer-Stunden. Er, Robert, wurde allmählich stärker.

Zu seiner großen Überraschung entdeckte Robert hinter ihrer
aalglatten und schlagfesten Fassade ein tiefes Loch von bohrendem Selbstzweifel, – bei ihr, bei Amelie!
Und plötzlich wusste er nicht – ist das nun eine verbindende Gemeinsamkeit, die wechselseitig eine Brücke in die Zukunft bilden könnte – – oder nagte da schon das Nichts, vor dem er ja auf der Flucht war, – tappte er da in eine Falle, wie seine Mutter täglich prophezeite?
Er spürte: ein wesentlicher Faktor fehlte noch. Zeitweilig kann ihm sogar die Idee, Amelie „zu retten“, – zu bewahren vor ihren bohrenden Fragen nach ihrem Vater. Wie konnte nur eine so brillante und selbstsichere Frau hinter einem Gespenst der Vergangenheit derart hinterher hecheln!
Am liebsten würde er sie dann in den Arm nehmen und trösten, ihr sagen: schließ doch ab mit diesem Kapitel deiner Geschichte!
Aber er spürte: dies würde als übergriffig sie ihm nicht verzeihen – das war ihr Tabu-Thema.
In diesen Momenten war er neben ihr, gemeinsam mit ihr, gnadenlos alleine und einsam, – so wie auch sie. Und damit brachen all seine alten Zweifel wieder auf. Welcher Drache verbarg sich da, bereit ihn jederzeit zu zerreißen? Und er spürte: dies war seinen Drachen, – nicht ihrer.

Er, Robert, war überaus geschickt im Ausweichen. Die vielen Erwartungen seiner Eltern hatten ihn hierbei trainiert. Er kam immer wieder ganz gut durch, und konnte meist brenzlige Situationen mit einen Witz auflösen. Dann scherzte er mit seinem Drachen: darf ich dich denn Amelie nennen?
Mit einem Drachen kämpfen, das war nicht sein Ding, bisher.
Nun spürte er jedoch: der Preis dafür war ständige Angst. Er konnte dem Drachen entweichen – und war damit ständig auf der Flucht.
Mit Amelie zusammen war er zeitweilig in der Lage, diesen Drachen zu vergessen, – dann spürte er seinen Platz neben ihr, spürte ihre schöne, wilde Kraft – und dies half ihm immer dann weiter, wenn der Zweifel langsam um ihn herumkroch und ihm den Weg versperrte.

Amelie.

Die Beziehung entwickelte sich so zäh, wie ihr erster Eindruck dieses Partners befürchten ließ.
Sicher gab es manche schöne, bisweilen gar wilde Momente.
Er war aufmerksam, zuvorkommend, und wenn sie ihm Zunder bot, loderte auch Feuer auf.
Aber sonst – –
Und da war noch etwas, was sie irritierte. Schon alleine dies, – ihre Irritierbarkeit, - machte sie bisweilen richtig wütend. Und dass sie sich nicht im klaren war, ob nun auf ihn wütend, oder sogar auf sich selber, – das machte sie dann erst recht wütend.
Dann hätte sie sich zerreißen mögen, oder ihn, oder ihre Beziehung – oder was immer das auch sein mochte, zwischen ihnen. Sie nannte sich selbst dann verächtlich: Rumpelstilzchen.
Dann warf sie den Kopf in den Nacken und schrie erneut in ihr Tagebuch: Schluss! Jetzt mache ich Schluss! Wozu meine Zeit verpassen mit diesem Schwächling?
Aber sie traut sich nicht, dies zu schreiben; das wäre dann so endgültig, – die Einsamkeit, spürte sie, würde sich wieder um sie schließen, – und ihr fehlten dann sicher seine bewundernden Blicke, die Wärme seiner Nähe, seine humorvolle Art. Vielleicht mochte als sie ihn auch mehr schon, als sie sich eingestehen konnte – – als sie konnte – da war wieder diese Irritation; es gab Punkte, an denen sie mit ihm, durch ihn auf Grenzen stieß, die sie eigentlich bei sich nie akzeptieren wollte. War sie nicht grenzenlos? Wollte sie nicht so sein?
Sie fühlte sich ertappt wie die Venus von Milo – mit einem Lindenblatt zwischen ihren Schultern. Hinten auf ihrer Schulter, ein zartgrünes Blatt, welches vor fremden wie auch vor ihren eigenen Augen eine böse, schwarze, schwelende Warze verbarg, ein Geschwür, welches jederzeit hinterrücks sich ihrer bemächtigen konnte, bedrohen, verschlingen, und ausspucken in die schlimmste Folterkammer unserer Vorstellung.
Und es gelang ihr nie, dieses Blatt abzureißen, wegzurubbeln, um auch nur besser sehen zu können, was es verbergen mochte.
Bisweilen ertastete Robert mit blöden Fragen dieses dünne Blatt, welches ihre Göttlichkeit trennte von dem Sturz in die Verdammnis.
Etwa wenn er ihr raten wollte, ihren Vater zu verleugnen – er nannte dies Abschied –
Sie entwand sich dann mit einer leeren Floskel seiner Idee, – und war zutiefst getroffen. Nicht wegen des Vaters – pah! Sie warf den Kopf in den Nacken – aber wegen dieser Verletzlichkeit, ihrer Verletzlichkeit, –
Und sie begann allmählich zu spüren, dass nicht ihr Partner das Problem war, sondern ihre Warze, - ein Geschwür ihrer Vergangenheit –
Das alles irritierte sie; und es bewog sie dann doch, bei Robert zu bleiben. Denn so einfach es wäre, sich von ihm zu trennen – pah! sie schnippte leise mit den Fingern, – aber dann wäre immer noch dieses Geschwür, – und sie hiermit alleine – und was hätte dann die Trennung gebracht?

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6 - der Drache

Robert

Es wurde schwieriger – immer mehr rückte Amelie ihn in einen Zweikampf gegen ihren abwesenden Vater – von dem niemand wusste, ob er denn überhaupt noch am Leben war!
Und er spürte: ein Zweikampf gegen einen Geist konnte er nur verlieren.

Wenn es schwierig wurde zwischen Amelie und ihm, schob sie diese Gestalt wie aus dem Nichts zwischen beide – ihre Pfeile trafen ihn, Robert, – aber seine Pfeile prallten ab an ihrem unsichtbaren Schutzschild.
Anfangs hatten sie beide noch mit Witz und erotischen Geplänkel diesem Kampf eine spielerische Note und Leichtigkeit gegeben, Aggressionen in Leidenschaft verpackt, - und sich dem hingegeben.

Er begann gerade eine neue Seite seiner Person zu entwickeln: das ständige Ausweichen zu ergänzen durch den eigenen Kampf, – seinen Mann zu stehen und auch selbst auszuteilen. Dann aber, immer öfter – je näher sie sich kamen – zog sie diese transparente Watte-Wand aus dem Nichts mit der schemenhaften Figur darauf, die ebensogut ihr Vater, wie auch er selbst sein konnte.
Gegen wen kämpfst du hier eigentlich? fragte sie bisweilen.

Je heftiger er austeilte, desto mehr traf er sich selber.
Ihre zunehmende Unangreifbarkeit ließ ihn mehr und mehr in die Bedeutungslosigkeit versinken, die er seit Kindertagen kannte.
Statt Hilfe von und bei ihr führte sie ihn immer tiefer in den sinnlosen Kampf mit sich selber.

Um zu resignieren war mittlerweile auch bei ihm zu viel Energie im Spiel. Es war wie ein anstehendes Gewitter; der Himmel ist schwer und fast schwarz, erste dicke Tropfen fallen bereits, ferne zuckt ein Blitz – nun wartet die Natur auf den befreienden Donnerschlag, Sturzregen, Hölle – und dann das Aufklären der Situation.

Aber wie schlägt man mit seiner Faust auf eine Wolke, dass es kracht?
Was käme denn zum Vorschein?
Manchmal reizte Amelie ihn soweit, dass er kurz davor war, mit einem Wutschrei wirklich auf sie einzuschlagen – – er erschrak darüber so sehr, dass ihm die Sprache fehlte, während sie weiter spottete. Oder war es schon Hohn? Dann kamen vor Wut, Hilflosigkeit und Verzweiflung ihm die Tränen, welches sie mit: „Naja, er flennt mal wieder!“ leichtfüßig quittierte.

Vor solcher Verzweiflung hatte er zeitlebens Angst gehabt. Noch nie war er so einsam, so winzig, so verloren – und zugleich überberstend von Energie, die keinen Ausweg mehr fand.

Und da half auch nicht, dass er immer wieder, in den ruhigen Zwischenphasen, wenn sie des Kämpfens müde waren, dass er dann ihre sorgfältig verborgene Angst und ihren Selbstzweifel deutlich spüren konnte. Dies löste nur erneut einen Proteststurm bei ihr aus, ohne ihm selbst wirklich helfen zu können.

Amelie

Sie fühlte sich gefährlich schwankend. – Nach zwei Seiten, wie ein überreiztes Pendel, dass doch die andere Seite nicht mehr lassen kann, ohne sich mit schrillem Kreischen loszureißen und sinnlos durch den Raum zu fliegen – ins nirgendwo.
Zeitweilig hasste sie ihn dafür.
Und öfter noch sich selber.

Der ruhige, harmonische Zweikampf beider Seiten war lange schon vorbei, sie spielten nun fangen mit einer Granate, aus der jederzeit der Sicherungsstift heraus rutschen konnte.
Und sie konnte nicht mehr sicher sein, dass es sie nicht treffen würde!

Sie sehnte sich nach der Sicherheit, die damals ihre Mutter erleben konnte mit ihrem Vater, damals, als sie gezeugt wurde.
Er war stark gewesen, und ruhig, – er hatte ihr, Amelie, gegeben, was später alle ihre neideten und nehmen wollten: ihr Leben, ihr eigenes Leben, ihre Stärke!
Er war ihre geheime Kraft, Quelle, unerschöpflich und stets präsent, unsterblich und allgegenwärtig.
Sie spürte: nur ein klein wenig zurücklehnen musste sie sich – dann stand er unsichtbar, aber felsenfest hinter ihr, – sie konnte sich anlehnen und durchatmen. Sie spürte seinen Odem in ihrem Nacken – und konnte Blitze schleuder nach vorne, wie es gerade ihr gefiel. Und sein mit Sternen geschmückter Zaubermantel schloss sie ein und schützte sie und ließ die ganze böse Welt hieran abprallen, und zeigte ihr im Innern die Pracht des Universums. Wenn sie den Kopf in den Nacken warf, dann meinte sie immer, den leichten Kuss seiner Lippen in ihrem Haar spüren zu können.
Beiß dich durch, flüsterte er von hinten.

Robert hatte ihr Vorträge gehalten, über Mündigkeit, Selbst- Verantwortung, Ablösung von den Eltern, Wirklichkeit als Überwindung von Illusionen – – das sinnlose Geschwätz eines Muttersöhnchen. Er verstand einfach nicht, was sie so deutlich spürte.
Und es amüsiert sie, ließ sie insgeheim ihre Macht spüren, wenn sie ihn so auf die Palme brachte, dass ihm die Luft wegblieb.
Ein Punkt für sie – und ihm fehlte offensichtlich der schlagende Beweis! Seine Tränen waren ihre Macht.

Nur die Warze, die war größer geworden. Erheblich. Und obwohl sie nur allzu gerne es ihm in die Schuhe geschoben hätte: diese Macht über ihren Körper würde sie ihm nie zubilligen können, – es war schon ihre Warze. Ihr sinnloser Selbsthass, eigene Verachtung.
Tief in ihr schmerzte es sie, wenn ihm die Tränen kamen, – und dies lies sie noch wütender werden. Dann, spürte sie, hatte sie plötzlich selbst die Granate wieder in den Händen, – und brauchte ihn, um diese los zu werden.
Sie war dicht daran, zerrissen zu werden.
Und verachtete sich selbst noch mehr als ihn …

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7 – Drachenkampf

Amelie

Der Schicksalsschlag kam für sie völlig unvermutet, aus einer längst abgehakten, dunklen Ecke.

Nach kurzer, schwerer Erkrankung starb ihre Mutter.
Sie, Amelie, hatte in diesen 14 Tagen alles versucht, um die eigentlich ungeliebte Mutter zu retten – vergebens.

Obwohl sie lange schon ihrer Mutter vorgeworfen hatte, am Verlust des eigenen Vaters schuld zu sein – jetzt, plötzlich, fühlte es sich an, als habe man ihr den Boden unter den Füßen fortgezogen.
Nun fühlte sie selbst sich schuldig am Tod der Mutter!

Dabei hatte sie immer nur versucht, irgendwie diese unselige Vergangenheit, all den alten, sinnlosen Schmerz zu heilen.
In ihrem Lieblingstraum hätten Mutter und Vater – ja, genau, ihr eigener Vater, - sich noch einmal getroffen und, so fantasierte sie gerne, – sie hätten doch plötzlich wie im Wunder zu ihrer alten Liebe zurückfinden können – wie Schlafende, die irgendwann die Augen aufschlagen und den bösen Traum beenden.
Hatte sie selbst, Amelie, nicht mit Robert diese Varianten von Problemen und Versöhnung ihnen vorgelebt? Konnten nicht, wie in ihren Träumen, ihre Eltern hieraus lernen?

Plötzlich wurde ihr klar, stets nur in die Vergangenheit gestarrt zu haben. Dies war ihr Maßstab gewesen für eigenes Handeln, für das Zerrbild, welches sie für Gegenwart gehalten hatte. Für eine Zukunft, in der sie stets nur Vergangenes wiederzufinden hoffte.

Und nun? War der Vater weg, – wohl tot, – und ihre Mutter ohne jeden Zweifel: gestorben!
Und sie selber? So alleine, als sei sie ebenfalls lange schon tot.

Wieso oft lag sie auf dem Fußboden, seitlich gekrümmt, zusammengekauert. „Embryonalhaltung“ registrierte ihre zynische Selbstwahrnehmung.
Fehlte nur noch der Daumen in der Schnute.
Sie trieb in einem Meer aus Selbstverachtung und Verzweiflung.
Was nützte ihr die ganze Performance, ihre Schönheit, ihre Fitness? - alles widerte sie nur noch an.
Irgendwann, während sie mit ihrer unnützen Beweglichkeit haderte, auf die sie immer so stolz gewesen war, – irgendwann bekam sie eine Idee im Sumpf ihres Selbstmitleids, wie eine Luftblase, die am Rande des Blickfelds langsam hochploppt. Und erneut aufploppt. Was hindert sie eigentlich daran, sich einfach mal umzudrehen? Sie ging von der rechten in die linke Seitenlage.
Und? Es fühlte sich körperlich kaum anders an. Aber statt auf das Regal mit den Fotos sah sie nun zum Fenster hin. Merkwürdigerweise fiel ihr da Robert ein. Was mochte er gerade tun? Und ihr alter Hohn - „sicher wieder in der Apotheke für Mami“ wollte sich nicht einstellen.
Saß er vielleicht jetzt auch am Fenster?
Irgendwie begann auch körperlich die gedrehte Position sich auszuwirken. Ihr rechter Arm war wohl eingeschlafen in der vorherigen Lage: er prickelte mit einem Mal, juckte, wachte auf.

Robert

Lange war er den Berg hinauf gestiegen.
Immer wieder hatte er gedacht: jetzt bist du oben – und kam dann aus dem Dickicht heraus auf eine Lichtung, die nur einen weiteren Aufstieg sichtbar machte.

Er konnte zurückblicken –
dann sah er, wie anfangs noch seine Mutter ihn getragen hatte. – Ist doch ganz natürlich, pflegte sie zu sagen, das bedeutet doch: Muttersein.
Irgendwann später, recht spät, begann er alleine zu laufen. Sie schob ihn immer noch nach vorne – egal. So war das eben.
Und vor kurzem hatte sich Amelie zu ihm gesellt. Sie war schnell, kräftig, packt ihn oft an der Hand und zog ihn hinter sich her.

Das haßte er im Grunde genauso wie das Geschoben werden.

Bisweilen ging’s auch bergab – dann, meinte er, den Gipfel schon überwunden zu haben – falsch!
Öfters war es kurvig, auch im wilden Zickzack, oder gar verschlungen. Dann erforderte es seine ganze Aufmerksamkeit, hierbei die Richtung nicht zu verlieren und nur im Kreis zu laufen bei all‘ den Schleifen.
Er entwickelte dabei eine eigene Stärke, seinem Weg treu zu bleiben, ob geschoben oder gezogen, eine Kraft, die ihm aber unbewusst blieb – er hielt dies für seine selbstverständliche Aufgabe, – dachte, jeder würde so strikt einem Weg folgen. Ihm war gar nicht klar, dass dies sein eigener, ganz persönlicher Weg auf den Berg war.

Wobei seine angeborene Bequemlichkeit ihn zu verführen suchte, es nun gut sein zu lassen.
Bleib doch hier, raunte sie innerlich, du bist doch schon hoch genug!
Noch weiter ist es sinnlos zu laufen, bringt nichts! Lass die anderen ruhig drücken oder ziehen: du kannst hier deinen Platz einnehmen!

Aber da gab es noch die zweite Stimme in ihm – war es Neugierde? Oder Sturheit, Pflichtbewusstsein? – Oder gar Hoffnung? Ehrgeiz?

Noch bist du nicht am Ende, sagte diese Stimme. Du kannst noch weitergehen: dann tu es auch.
Gab es nicht die Schilderung von dem verborgenen Paradies?
Von dem Schloss am Ende des Weges, wo liebreizende Schönheiten ihn zum Helden krönen würden?
Würde er dort nicht den Ritterschlag der Göttin als Lohn all seiner Mühen erhalten?

Nun hier an diesem gottverlassenen Haltepunkt auf der Hochebene, irgendwo im Niemandsland zwischen Von-Nirgendwo nach Wohin-auch-Immer, - als GedrücktGezogener den Rest seines Lebens fristen mit wunschlosem Unglück, sich im Kreis zu drehen – als Untoter? Reicht es, halbwegs zu leben? nur noch warten auf den allmählichen Tod?
Und so brach er stets erneut auf zu seiner nächsten Etappe. Vielleicht hätten frühere Generationen dies eine Pilgerreise genannt, welches für ihn nur seinen Lebensvollzug darstellte.
Es ging ihm laufend nicht um Karriere – das war ein Lieblingsthema für DrückerZieher. Ihm ging es um Existenz, um Dasein und Zukunft: was wird später sein – was bleibt?
Da blieben für ihn Urkunden, Sieger-Treppchen und schwungvollen Titel nur verblichene Relikte in blind angelaufenen Silber-Rähmchen.
Weltlicher Tand – so hätte man früher dies genannt.

Dieses Schloss am Ende des Weges – gab es das tatsächlich? Er war sicher: herausfinden würde er dies nur, wenn er die Kraft fand, weiter zu wandern.

Der Schubkraft von hinten war er inzwischen davon gelaufen. Er hörte bisweilen seine zurückgebliebene Mutter noch etwas zetern. Dies war er gewohnt. Sie hatte auf ihre Weise es sicher gut gemeint; nun aber spürte er, musste er auf seine Weise weitergehen.
Und sein Zugpferd, - mit dem muskulösen, silbrig schimmernden Körper, – war offensichtlich zur Zeit recht verwirrt. Sie scheute, drehte sich im Kreis, hatte anscheinend ihre Orientierung verloren.

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8 - das Elixier

Robert

Robert spürte seine eigene Kraft, seine Möglichkeit, alleine zu laufen. Er erschrak fast, – aber warum nicht?
Alleine?

Und mit einmal überschüttete es ihn mit einem warmen Gefühl der Sehnsucht, mit all den vielen gemeinsamen Erlebnissen, ihrem gemeinsamem über-die-Wiese-laufen.
Wenn sie bei der Bachdurchquerung sich gegenseitig halfen und stützten.

Sie hier auf diesem Plateau zurück zu lassen kam für ihn nicht infrage; - vielleicht war dies sogar Liebe?

Seine Mutter hatte ihm plausibel gemacht, dass er mit ihr und sie mit ihm einen alten Bund eingegangen seien, – die Nabelschnur, die ihn mit allem versorgt hatte, was es zum Leben brauchte. Die Bahn des Blutes.
Aber vielleicht war ja grade Liebe jene Magie, die ihn befreien könnte?
War nicht der Bund des Blutes ein archaischer Überrest, den die Kultur schon längst überwunden hatte?

Amelie

Mehrfach hatte sie sich noch hin-und-her gedreht, – sie spürt die Kraft dieses Perspektivwechsels.
Ihr altes Leben war nicht falsch gewesen, aber zu einseitig.
Und dadurch im Kern unglücklich. - Zeit für einen Wechsel!

An der Vergangenheit, dies hatte sie nun eingesehen, konnte sie eh nichts mehr ändern – sie konnte diese nur akzeptieren lernen, sich hiermit versöhnen.
Ihr Vater und ihre Mutter mochten jeweils in ihrem Leben genug gute Gründe gehabt haben für ihr Handeln, - sie, Amelie, konnte nur im Nachhinein ihnen die Freiheit geben, so zu handeln, wie es ihr jeweiliges Leben erfordert hatte.
Ja, sagte sie sich: dies war ihre eigene Verantwortung und zugleich Türe in die Zukunft! Die Eltern mit ihrem Leben und Handeln zu akzeptieren, und loszulassen – Leinen los für ihr eigenes Schiff auf ihrem eigenen Weg!

Nun war sie selbst gefragt, und ihr Leben in der Zukunft und nicht in der Vergangenheit. Sie musste sich endlich dieser Zukunft zuwenden, um ihr eigenes Leben führen zu können.
Und sie spürte immer wieder die Kraft, die sie mit Robert verband, – eine Kraft, die nach vorne strebte. Sie sehnt sich plötzlich nach seinen Armen, seiner Wärme.

Sie hatte endlich erkannt: dies alles war für sie nicht nur Vergangenheits-Bewältigung: es hatte längst schon sich verselbstständigt! Es war mehr.
Es war eine eigenständige Kraft, die sie mit ihm verband, und die weiter gehen wollte als bisher!
Vielleicht war dies sogar, – sie bekam etwas Herzklopfen, – vielleicht war das Liebe?

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9 - der Rückweg

Amelie

Sie fühlte sich wie im Rausch, – im Rausch der Sinne, eine alte Redewendung. Verloren und getragen durch Leidenschaft, durch ihr Bekenntnis zu Robert.
Bisweilen meinte sie – würde er im 120. Stockwerk sagen: spring, das ist dein Glück! – Sie würde es tun… Springen. –
Endlich: springen!
Sie fühlte sich plötzlich wie das Küken, welches die Schale durchbricht, – mit einmal das Licht der Welt erblickt.Mit ihm, mit Robert, wollte sie nun weiterlaufen bis zum Ende der Welt, – dort, wo er ihr dann zeigen würde: dieser Silberfaden, das ist unsere Sehnsucht in die Zukunft!
Sie wusste noch gar nicht, wohin, – aber sie spürte: es ging endlich voran! Sie sehnte sich nach Roberts Händedruck, nach seiner Stärke, die zuvor ihr nie aufgefallen war.

Robert

Seine Beine liefen fast automatisch. Sie schien ihren Weg besser zu kennen als er selber. Er war auf einem guten Weg.
Und er spürte zusätzlich als Kraftquelle Amelie, die im folgte Und mit ihm ging.
Bisweilen sah sie sich suchend um, rückwärts, seitwärts, – so, als würde sie Stimmen hören aus dem Off. Dann aber trafen sich wieder ihre Blicke und sie selbst flüsterte leise: Geh’ weiter, alles gut.

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10 - Klippen

Amelie:

Sie wusste gar nicht genau, wann es begonnen hatte. Ihr Perspektivwechsel war ja nicht nur links oder rechts: auch von oben, aus der Vogelperspektive, hatte sie begonnen wahrzunehmen.
Und zu vergleichen.
Wollte sie sich nicht lösen aus der unsinnigen Vergangenheit?
Plötzlich, sie sah es deutlich, hatte doch Robert einfach ihr die alte Rolle weggeschnappt, – was hat er denn mit ihr vor? Selbstständig wollte sie doch ihren Weg finden!

– Je länger sie grübelt, desto mehr geriet sie in Rage.
Er brauchte gar nicht so zu tun, als sei er ihr Vater!
Diese Rolle hatte sie ihm nie explizit zugestanden – – da hatte er nur ihre momentane Schwäche schamlos ausgenutzt!
Sich ihrer Seele bemächtigt! Wo wollt er sie denn hinzerren?
Er nutzt sie, ihre Kraft, nur aus, um selber sein Ding zu machen – nein! So nicht!
Der Streit brach wie ein Vulkan, völlig unplanbar, aus ihr heraus.
Sie schrie ihn an ohne Vorwarnung, nach längerem Schweigen.

Robert

Allmählich beschlich ihn ein merkwürdiger Eindruck, je weiter sie gingen.
Gerade erst hatte er ja begriffen, dass er sehr wohl alleine gehen konnte, – ja: zur Lösung seiner Probleme sogar alleine gehen musste!
Und Amelies Begleitung sollte nur Begleitung sein auf seinem eigenen Weg: eine Gemeinsamkeit, die ihn eben nicht verbiegen, verzerren, verwirren, – auf Abwege führen sollte!
Plötzlich wurde ihm der Rollenwechsel klar – und massiver Ärger stieg in ihm empor. So nicht!

Er wollte sich nie mehr als Opfer ausnutzen lassen – – aber er wollte sich auch nicht in eine Führungsrolle drängen lassen, – wollte nicht irgendeine Vaterrolle ausüben, nein!
Sie hatte ihm unbemerkt diese Rolle untergeschoben!
Nein! So nicht!

Ihre eigene verdammte Verantwortung lag doch darin, alleine zu gehen, so, wie er es nun endlich auch wollte!

Als er drauf und dran war sie anzurufen, um das alles klarzustellen – da rief sie ihn an: in zwei Tagen werde ihre Mutter beerdigt.
Ob er, ja, ihr, Amelie – – ja, also: ob er denn ungeachtet allem anderen ihr da beistehen könnte, – sie begleiten? – Sie würde sich sonst so gnadenlos alleine fühlen …

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11 - Auferstehung (Integration)

Robert

Den Weg zur Körperverwertungsstelle legten sie schweigend zurück, jeder auf eigenen inneren Wegen unterwegs. Denn auf seinem Weg, da war sich inzwischen Robert sicher, auf seinem Weg konnte sie nicht laufen. Einerseits kam sie ja aus einem ganz anderen Gebiet, und, so viel hatte sich in ihren Gesprächen gezeigt, sie hatte auch einen ganz anderen Horizont als er.
Sie sah Berge, wo für ihn nur plattes Land war, und grüne, saftige Täler, wo er Felsklippen wahrnahm.

Sie hatte für die Verwertung ihrer Mutter tief in die Tasche gegriffen – als wollte sie hiermit irgendetwas wieder gutmachen. Der Mietsarg, mit einem Fotoposter der Mutter dekoriert, war Holzimitat – – das war schon die Luxusklasse. Dies sollte an frühere Beerdigungsgebräuche erinnern, - bevor der Körper dem natürlichen Kreislauf zurückgegeben wurde, organische und künstliche Teile getrennt und der jeweiligen Aufarbeitung zugeführt werden, wie es seit dem Klimaumsturz nun üblich ist.

Der organische Anteil wird nach einem radikalen Trocknungsprozess auf Mikrowellenbasis, der zugleich die Zellstruktur auflöst, offiziell in der Düngeraufbereitung für die Nahrungsfarmen verwendet. Es hielt sich lange das Gerücht, teilweise würden hieraus auch grüne Kraft-Kekse für die betuchten Kreise gebacken, – umgangssprachlich wurden sie in historischer Anlehnung Green Soylent genannt.
Es gab sogar eine Film- Dokumentation hierzu.
Ob es überhaupt so war? Robert war sich nicht sicher.
Wahrheit ist eine fragwürdige und fragile Angelegenheit.

Viel wichtiger aber war dann das Wasserritual.
Nachdem der Sarg auf seinem Transportband von der Aufarbeitungsfabrik geschluckt war, gingen sie beide durch das Portal, welches den Trauerraum begrenzte, in den anschließenden Transformationsbereich. Er war geprägt von hellen Farben, – durch eine Lichtkuppel drang sogar echter Sonnenschein ins Innere – wobei, – so ganz konnte das ja nicht stimmen, sinnierte Robert. Denn durch viele Schilderungen und Filme wusste er um diesen hellen, gleißenden Sonnenschein: aber später am Abend oder früh morgens oder in der Jahreszeit, die man immer noch Winter nannte, um den Schein von einer kontinuierlichen Verbundenheit mit der früheren Zeit aufrecht zu erhalten – – jedenfalls gelegentlich und irgendwann müsste doch dieser helle Schein durch die permanent dichten Wolkenschichten verdunkelt sein –? –?
Aber es ging hier ja nicht unbedingt um einen nachrechenbare Lichtmenge, sondern um die Wirkung von Sonnenschein – deren Ursache letztlich egal war.
Sonnenschein, Vogelgezwitscher, die Optik einer Blumenwiese – hier konnte jeder den Kreislauf der Natur und die Wieder- Auferstehung von scheinbar Verstorbenen – als ihre Transformation in neue Stofflichkeit – erleben. Der Kreislauf der Nährstoffe, der technisch genutzten Elemente, und als krönendes Symbol: des Wassers!

So war in der Raum-Mitte, wie ein Altar, eine ewig sprudelnde Wasserquelle errichtet. Und für jeden von uns ist es ein heiliger, stärkender, in die Ewigkeit verweisender Brauch, nach der Verabschiedung im dunklen Trauerraum, nun ein Glas vom Regal zu greifen, und an dieser sonnendurchfluteten Quelle des Lebens dieses Glas mit Wasser zu füllen, und langsam, andächtig, Schluck für Schluck, zu spüren, wie dieses Wasser durch unsere Kehle rinnt und unseren Körper mit neuer Kraft erfüllt. Nichts von unserer synthetisch hergestellter Nahrung hat noch irgendetwas gemeinsam mit den Kräutern, Beeren und dem Mammut- Fleisch unserer Vorfahren – – bis auf das Wasser!

Dieses Wasser, – allein die Vorstellung lässt uns den Atem stocken, – dieses Wasser hat immer noch die gleiche Struktur, Beschaffenheit, – ist immer noch das gleiche wie damals zur Altsteinzeit und noch beliebig weit davor! Überall.
Genau dieses Wasser jetzt in meinem Glas, - Robert fröstelte es, - mochten vielleicht wirklich genau seine Vorfahren von 100 tausenden von Jahren Molekül für Molekül durch ihre Kehle rinnen lassen, – so, wie er es andächtig gerade tat.

War nicht Wasser die einzig denkbare Form und Symbol und auch Realität für die Wieder-Auferstehung im neuen Leben?
Und gleichzeitig die Krönung von existenzieller Weisheit: entweder, überlegte Robert, läuft es durch meine Kehle, oder aber durch Amelies!
Sein genossenes und wahrgenommenes Wasser kann niemals das von ihr sein, – und umgekehrt!

Amelie

Sie fühlte sich wütend und verwirrt zugleich.
Plötzlich ging es ihr viel zu schnell – ihr, die einst Geschwindigkeit als ihre eigentliche Natur definiert hatte!
„Schwächlinge bleiben halt zurück“, so hatte sie früher es beschrieben.
Und nun? Gerade noch verspürte sie randvoll Zorn auf diesen Robert, – und dann, – wen sonst hätte sie bitten können, sie zum Abschied ihrer Mutter zu begleiten?
War nicht, trotz allem, er der einzige, dem sie dies zubilligen mochte?
Am liebsten wäre vorhin sie über die Absperrung gesprungen, – sie hatte wie ein Blitzlicht sich dies vorgestellt, hätte den Sarg aufgerissen, ihre Mutter an den Schultern gepackt, hätte sie dann angebrüllt, ganz laut: Bleib! Noch nicht! Du darfst noch nicht gehen! Plötzlich hatte sie so erschreckend viele Fragen…
Du kannst mich doch nicht auch noch im Stich lassen!
– doch da war nur schweigen. –
allein, – zurückgeblieben, – wie die Schwächlinge, für die sie zeitlebens nur die kalte Schulter hatte und Hohn –
mit ihrer Mutter, spürte sie, starb ihr eigenes Leben …

Völlig fremd und unwirklich fühlte sie sich im Raum der Transformation. Nahm dankend das Glas, welches Robert ihr reichte. Sie trank eher mechanisch, ferngesteuert vom Ritual.

Sie hatte den Sprung nicht geschafft, vom Nichtmehr des Dunkel- Raumes, zum Nunaber das Lichtraumes.
Sie fühlte sich wie ein gelähmtes Küken, dessen Eischale einer Betonkuppel glich. Is there anybody out there? Hey You - tuuutuuutuuut - - keiner da? -
Pink Floyd, The Wall, ihre Lieblingsmusik.
Sie begann zu verdörren, – das Wasser perlte an ihr ab.
Ein zugemauertes Ei, und das Küken weiß nie, ob die leichte Dünung nun das Treiben im Wind einer Salzwüste oder der Wellentanz auf offener See sein könnte –?
Wo, bitte, ist unser Guckloch nach draußen?
Gruselnd wendet das Gehirn in seiner Höhle sich ab und wählt eine Romanze im inneren Hirnkino – der edle Ritter reicht der unerkannten Prinzessin den Becher der wahren Essenz –
„Danke, Robert“. Sagte die Prinzessin – war das nicht ihre eigene Stimme?
Amelie zögerte. Das war doch sie selber? –

Und plötzlich genoss sie erst einmal dieses Zögern, – sie fühlte sich wie umgeschaltet, ausgetauscht, aus diesem rasenden Geschwindigkeitshorror in ein - – sie fand die Zeit, tief durchzuatmen. Dieses Zögern schien ihr plötzlich unendlich kostbar.
Einatmen, und dann auch spüren, wie die Luft den ganzen Brustkorb füllte und gedehnt hatte, – und mit ihrem bewussten Ausatmen bließ sie den Sand weg, den die alten Geschichten ihr versuchten in die Augen zu streuen.
Wie ein Neugeborenes, dass nach seiner Abnabelung den ersten eigenen Atemzug wagt.
Ihr „Danke, Robert“ – war das jetzt schon gesagt? Oder wollte sie es erst noch sagen? Wieso klangen diese zwei Worte so lange nach, dass nach wie vor sie es spüren konnte, in ihrem Brustkorb, sogar in ihrem ganzen Körper, alles schien diese zwei Worte zu summen, – sie mochte ihre Stimme, aber hier war ihre Stimme zusätzlich noch verknüpft mit einem Gefühl von Wärme, – ja, sogar von Hoffnung –?
Gerade noch hatte sie Donnerkeile vom Zorn und Hass und Hohn und Wut auf ihn schleudern mögen, – und nun empfand sie Wärme??
Okay, Psychologie. Grundkurs, Basiswissen: der Mensch, dass Ich, besteht aus verschiedenen Anteilen. Klar wusste sie das, hatte sie das gelernt. Aber, verdammt, warum hatte sie sich dann so schlecht im Griff? War sie denn wirklich nur ein Schwächling?
– Und was, andererseits, war denn so falsch an Wärme?

Plötzlich fühlte von dieser Wärme sie sich überflutet. Hatte er ihr nicht das Glas gereicht mit dem Wasser, das Glas des Lebens?
Hatte er ihr nicht ein Angebot gemacht, neues Leben ihr zu schenken?

Robert

Er hatte nicht nur ein Glas für sich abgefüllt, sondern zugleich auch ein eigenes, ihr eigenes, für Amelie – und ihr gereicht.
„Danke, Robert!“

Diese zwei Worte trafen ihn, – sie hatte es zu ihm gesagt, – aber sie trafen ihn, nicht verletzen, sondern mit einer völlig ungewohnten Wärme.
Eine Wärme, die er immer erhofft hatte, die aber nie gekommen war. Bis jetzt, plötzlich.

Eine Wärme, die irgendetwas in ihm zum Schwingen brachte.
Und er überlegte: ja, es waren getrennte Gläser, – das Wasser nahm bei ihr und bei ihm je seinen eigenen, völlig individuellen Weg. Ihr Wasser, sein Wasser.
Und doch wurde beides aus gleicher Quelle gespeist – – und war das nicht Sinn und Erkenntnis dieses Transformationsraumes, dass dann irgendwann später all die individuellen Ströme und Wege des Wassers wieder zueinander finden, – bereichert um die individuellen Wege und Erfahrungen, und so für kommende Zeiten den Kraftpool bilden, aus dem dann Kinder und Kindeskinder ihren weiteren Weg durchs All speisen können?!
Danke, Robert!
Wie warm ihre Stimme klingen konnte! Er war verzaubert.

Robert

Nach dem Ritual gingen sie noch eine längere Zeit gemeinsam spazieren.
Sie sprachen kaum – nur recht oberflächlich: aber in einem stillen Einverständnis, dass es hier nicht um diese Oberfläche ging, sondern nur beiden darum, jeweils die Stimme des anderen zu hören, einfach nur die Stimme zu hören, und ihr Mitschwingen in der eigenen Brust.
Sie hielten einander fest an der Hand, – er hielt ihre, und sie hielt seine Hand. Schweigend, und erfüllt von der Wärme dieser Hand.

Amelie

Neues Leben schenken.
Sie wusste plötzlich, soeben bewusst ihre zweite Geburt erlebt zu haben.
Endlich hatte sie es im Griff: und doch war es ein Geschenk für sie, – nicht steuerbar und nicht wiederholbar.
Dieses Glas Wasser, dieses Leben, was ihr gereicht worden war: ab nun wollte sie hierauf achten.
Es laufen lassen – und zugleich weiter entwickeln. Ist es möglich, dass Wasser den Berg hinauf läuft?: Ja. Selten – aber wenn wir es wollen und uns drum kümmern: dann ja, dann ja! Es liegt an uns, und nicht am Wasser! Da, spürte sie, gab es noch Klärungsbedarf.

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12 - Lagerfeuer

Robert

Er war stolz. STOLZ! – Dieses Gefühl kannte er bisher nur aus der Literatur, – und zeitweilig bei Amelie.
Er war stolz! Sie hatten nach der Beerdigung beschlossen, gemeinsam weiter durchs Leben zu gehen. Und dann – da waren kaum große Diskussionen und Zweifel im Spiel – dann hatten sie tatsächlich beim AfB, dem Amt für Bevölkerungsentwicklung, den Antrag gestellt auf Schwangerschaft und Nachwuchs.
Die erforderlichen Kontrolluntersuchungen waren halt’ nötig:
die recht kleinen Erdhabitate ließen nur eine nachhaltige streng begrenzte Kinderzahl zu. Ausführliche genetische Kontrolle, ein Portrait des derzeitigen epigenetischen Status, Sozialprognose, Zukunftsfähigkeit, und so weiter – sie hatten alles gut bestanden.
Und vor einer Woche übergab der Kurier ihnen persönlich das Paket mit dem heißbegehrten Fertilitätspulver, welches sie beide ab jetzt ihrer Nahrung zumischen durften!
Es hebt die Unfruchtbarkeits- Substanz auf, die sämtlichen Grundnahrungsmitteln beigemischt wird – bis auf das Wasser übrigens; dies unterliegt ja dem Reinheitsgebot.

Er war so stolz – sie beide gehörten ab jetzt zu dem auserlesenen Kreis von Menschen, die mit eigenen Kindern das Leben der menschlichen Spezies hinaustragen durften in die Zukunft!

Dieses Babypulver war natürlich immer Objekt der Kriminalität, – es wurde bisweilen heimlich gehandelt. Aber um welchen Preis?
Zumindest bei der Geburt waren die Probleme kaum zu lösen – im Volksmund liefen Erzählungen von heimlich aufwachsenden Kasperhauser Kindern: aber wie sollten sie denn dann weiterleben?
Robert hielt dies für einen Teil der Mythen, die wohl absichtlich in die Welt gesetzt wurden, um dem streng durchorganisierten Leben in den Kolonien einen Hauch von Abenteuer zu geben.
Letztlich waren sie ja alle froh, ihr Dasein in dem Habitat gesichert und geschützt zu erleben. Und die Marskolonie, – das war ja auch alles andere als ein Zuckerschlecken. Die etwa 2000 Leute, die derzeit dort hausten, waren weitgehend Abenteurer, Idealisten, Verrückte. Oder Sträflinge in den dortigen Rohstoffminen.
Und so stellte Robert sich vor, wie er in einigen Jahren mit seinem Sohn – das es ein Sohn sein, war für ihn eine Selbstverständlichkeit – im Wohnraum am (virtuellen) Lagerfeuer sitzen würde, – mit dem Steuerkreuz würde er ein bis zwei zusätzliche Buchenscheite ( diese Bezeichnung hatte er der Literatur entnommen) in die Glut schieben, und dann könnten sie beide, Amelie und er, dem Sohn mitgeben, was sie im Laufe der Jahre gelernt hatten, – und vor allem seine letzte entscheidende Einsicht:
Du kannst und musst deinen eigenen Weg alleine gehen, mein Sohn!

Amelie

Diese Formulierung hatte sie noch geraume Zeit gefesselt: kann Wasser den Berg hinauf laufen?
In der Natur, ohne die Menschen, natürlich nie!
Aber sie hatte nun mit Robert begriffen: zum Wesen des Menschen gehört, auch Unmögliches irgendwie wirklich werden zu lassen – – also Grenzen zu überschreiten, und Ideen eine Wirklichkeit zu geben.
Das war für sie der Startschuss, selbst das Geheimnis der Reproduktion, des Lebensschenkens, anzunehmen.

Ein eigenes Kind – ihre Tochter! Das es eine Tochter wurde, stand für sie außer Frage. Schließlich wollte sie es ja so!
Und später – ihre Gedanken eilten in die Zukunft – würden sie dann, Robert, und sie, und ihre Tochter, im Park spazieren gehen. Sie würde der Tochter ihre zutiefst neue Erkenntnis anvertrauen für die Zukunft: wenn du es willst, kann Wasser bergauf laufen!
Und fast schon schien es ihr, als spürte sie bereits die Magie dieser Schwangerschaft – wenn sie mit ihrem Fruchtwasser im Bauch den Hügel im Park erklomm – – den Namen der Tochter, da musste sie wohl noch etwas mit Robert feilschen. Er hatte sicher eigene, skurrile Ideen, aber sie würde sich durchsetzen. Es wird ja schließlich IHRE Tochter!

Geschrieben von Karl-Dieter Elshorst 23. September 2025